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28. September 2021 | Schwerpunkt ÖKOLOGISCHE MATERIALIEN

SCHLUSS MIT „GANZ ODER GAR NICHT“

Geschäftsführer | raumprobe OHG

Die Nachfrage nach alternativen Materialien, die bisher im Einsatz befindliche Werkstoffe oder Produkte durch „bessere“ ersetzen können, steigt kontinuierlich an. Doch die erfreuliche Entwicklung zeigt auch: Viele der positiven Bemühungen werden zu engstirnig oder absolut angegangen. Entweder wird nach einem unmittelbaren Ersatz gesucht, der zwar ökologischer sein soll, aber bitte mit den gleichen Maschinen zu verarbeiten ist, nicht mehr kosten darf und genauso unproblematisch zu reinigen ist wie bisher. Oder – wenn passende Alternativen gefunden und vorgeschlagen werden, die eine deutlich bessere Umweltbilanz aufweisen als z. B. das bisher verwendete Verpackungsmaterial, aber noch nicht zu 100 % nachwachsend sind – dann wird eben das bemängelt und als Grund dafür verwendet, doch keinen Umstieg zu vollziehen, da die Alternativen ja auch nicht optimal oder perfekt seien. Dann wird lieber wie bisher weiter Sondermüll produziert.

Mit dieser Haltung werden wir den dringend benötigten Richtungswechsel nicht schaffen. Es braucht die Zwischenschritte und Brückentechnologien. Es sind viele kleine Schritte und jeder kann sie gehen.

Material macht den Anfang
Biologisch abbaubare Verpackungsmaterialien, recycelte Werkstoffe, ökologische Bodenbeläge oder nachwachsende Fassadendämmungen werden verstärkt angefragt. Das erfreuliche gleich vorweg – es gibt jede Menge passender Materialien im Bereich Ökologie, Nachhaltigkeit oder schlicht „gesunder Materialien“ wie ich die stetig wachsende Werkstoffgruppe auch gerne zusammenfasse. Ganz aktuell entsteht eine umfassende Sonderschau über GESUNDE.MATERIALIEN, bei der wir von raumprobe aufzeigen, wie vielfältig die Aspekte diesbezüglich sind und vor allem wie umfangreich das Materialangebot bereits heute ist. Die Bandbreite reicht dabei von alten Klassikern, die eine wahre Renaissance erfahren, wie geseifte Vollholzböden, luftreinigende Kalkbeschichtungen bis hin zum fast in Vergessenheit geratenen regionalen Lehmbau. Im Bereich biologisch abbaubarer Kunststoffe wächst das Angebot, die Möglichkeiten des Recyclings werden mit neuen Sortier- und Trennanlagen rasant erweitert. Überhaupt scheint die Kreislaufwirtschaft auch bei den Baustoffen jetzt endlich in Schwung zu kommen. So muss die Qualität von R-Beton herkömmlichem Beton in nichts nachstehen, ist aber energetisch deutlich attraktiver und verbraucht keine wertvollen Rohstoffe aus der Natur.

Für den stationären Einzelhandel tut sich hier eine große Chance auf, mit „gesund“ gebauten Verkaufsräumen nachhaltige Nutzererfahrungen zu schaffen, die unter die Haut gehen können.

Fragwürdiger Zertifikatshandel zur Tilgung von Emissionsschuld
Der Emissionshandel als marktwirtschaftliches Instrument, mit dem die Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2) und anderen Treibhausgasen gesenkt werden sollen, erinnert mich an den Ablasshandel, bei dem ich mich mit Carbon Credits von meinen Sünden freikaufen kann. Die stolze Kommunikation dieser Kompensationsmaßnahmen durch Unternehmen wirkt auf mich nicht positiv, sondern hat etwas Scheinheiliges an sich. Durch den Erwerb der heute angebotenen Zertifikate und die damit einhergehende „klimaneutrale Zertifizierung“ generieren die Ausgabestellen teils beträchtliche Umsätze. Dass mit den Ablasssummen im Mittelalter unter anderem gewaltige Kirchen gebaut wurden, von denen zahlreiche bis heute erhalten und sogar noch in Benutzung sind, ist aus heutiger Sicht ein Segen. Ob die aktuellen „Ökoheiligen“ mit den durch die Zertifikate umgesetzten Summen ebenfalls solche langfristigen Werte schaffen, bleibt abzuwarten.

Im Gegensatz dazu lässt sich mit vor Ort sichtbaren und vor allem mit allen Sinnen erlebbaren Materialien ganz konkret aufzeigen, wie ernst gemeint die Bemühungen sind.

Was ist eine Tonne CO2?
Klimaschutz ist wichtig, ja! Das Ziel für Deutschland wird so benannt: Von über 11 Tonnen CO2 auf unter eine Tonne CO2 pro Person und Jahr. Das ist die Position des Umweltbundesamtes in Einklang mit der internationalen Staatengemeinschaft. Hierzu müssen wir noch viel tun. Ob uns das mit der aktuellen Bewertungsstrategie gelingt, bezweifle ich jedoch stark. Wir müssen spürbarere, greifbarere und nachvollziehbarere Instrumente als Maßstab einsetzen. Solange die Kenngrößen der zu beurteilenden Materialität so wunderbar unsichtbar sind wie bei CO2, kann dahinter jede Menge gemauschelt und versteckt werden. Eine eingesparte Tonne CO2 bleibt unsichtbar, ganz im Gegenteil zu einer Tonne Müll, der recycelt wurde. Mit solchen direkt sichtbaren und damit auch viel leichter zu kontrollierenden Materialeinheiten werden die Maßnahmen transparent und viel leichter nachvollziehbar.

Bereits heute – nicht erst 2030!
Als Gründer von raumprobe und leidenschaftlicher Materialscout möchte ich keinesfalls ein schwarzmalender Spaßverderber sein. Vielmehr geht es mir in Bezug auf Ökologie und Nachhaltigkeit darum, die Lust zu wecken, sich mit den Themen intensiver, ernsthafter und glaubwürdiger auseinanderzusetzen. Dazu verfolgen wir gleich mehrere Strategien, von der Aufklärung über das Sensibilisieren hin zum Aufzeigen von Alternativen. Das erfreuliche daran ist, dass es bereits heute jede Menge Werkstoffe gibt, die deutlich besser sind als viele der aktuell im Einsatz befindlichen Materialien. Wir müssen also nicht auf Morgen warten, sondern können mit jeder Materialwahl, die wir heute zu treffen haben, einen Schritt in die richtige Richtung gehen.

Gehen Sie mit? Oder was hält Sie zurück? Schreiben Sie uns! 

Unser heutiger Kolumnist
HANNES BÄUERLE

Geschäftsführer raumprobe OHG

Der in Stuttgart geborene Diplom-Ingenieur Hannes Bäuerle gründete 2002 zunächst das Innenarchitekturbüro LINIE ZWEII. Drei Jahre später folgte 2005 die Gründung von raumprobe. Die Agentur arbeitet im Bereich Materialberatung und ist inzwischen die führende Institution mit Materialausstellung und Materialdatenbank. Hannes Bäuerle ist als Dozent an mehreren Hochschulen tätig, hält als Fachreferent Impulsvorträge und ist Autor zahlreicher Fachbücher.

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Vom Nischen-Lifestyle zum Megatrend

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